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LGK-Dialogformat "Praxis trifft Wissenschaft"

Dokumentation: „Praxis trifft Wissenschaft – Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf die psychische Gesundheit und Resilienz“

Am 24.06.2021 führte die Landesgesundheitskonferenz Thüringen das Dialogformat „Praxis trifft Wissenschaft – Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf die psychische Gesundheit und Resilienz“ mit über 80 Teilnehmenden und Zuschauer:innen im digitalen Format durch. Angestrebt wurde in der Auseinandersetzung zum LGK-Jahresthema „Psychische Gesundheit und Resilienz“ die Auswirkungen der Covid-19 Pandemie mit unseren Mitgliedern, den Akteur:innen der Strategiearbeitsgruppen „Gesund aufwachsen“, „Gesund leben und arbeiten“ und „Gesund alt werden“ und allen weiteren Beteiligten zu diskutieren. Hierbei galt es gemeinsam den Fragen nachzugehen, mit welchen Strategien der Gesundheitsförderung und Prävention negativen Folgen entgegengewirkt werden kann und welche Potenziale wir aus der Pandemieerfahrung ziehen und weitergeben können.

Die nachstehende Online-Dokumentation ist hier als PDF-Datei hinterlegt.

Anhang

Dokumentation Dialogformat (1.3 MB)

Zum Hintergrund:

Es ist bekannt, dass eine gute psychische Gesundheit eine wesentliche Voraussetzung für eine gute Bewältigung der Pandemie und ihrer Folgen ist. Resilienz, also die psychische Widerstandsfähigkeit, gilt als ein Schutzfaktor bei der Bewältigung potenziell belastender oder sogar traumatischer Ereignisse.

Aber es gibt Menschen, die über weniger Schutzfaktoren und Ressourcen verfügen:

Ein Beispiel hierfür ist die Situation sozial benachteiligter Menschen. Sozioökonomisch benachteiligte Bevölkerungsgruppen sind häufiger und schwerer von der COVID-19 Pandemie betroffen. Sie leiden stärker unter den negativen Begleiterscheinungen der aktuellen Infektionsschutzmaßnahmen mit größeren indirekten Gesundheitsfolgen. Dadurch besteht die Gefahr der Verschärfung der bestehenden sozialen Ungleichheit von Gesundheit durch die COVID-19 Pandemie. Sozioökonomisch benachteiligte Bevölkerungsgruppen kommen vergleichsweise häufiger mit dem Virus in Kontakt und sind auch häufiger von einem schweren Erkrankungsverlauf betroffen.
Aus diesem Grund sollten die sozioökonomischen Merkmale, d.h. der Bildungsstand, der Berufsstatus, das Einkommen etc. (neben Alter und Vorerkrankungen) bei der komplexen Bestimmung von Risikogruppen und der Entwicklung von Maßnahmen besonders berücksichtigt werden.

Weiterhin ist bekannt, dass die getroffenen Maßnahmen und Entscheidungen zur Eindämmung der Pandemie Folgewirkungen nach sich ziehen:

Ein Beispiel hierfür sind die indirekten Gesundheitsfolgen (siehe auch Hintergrundpapier des Kompetenznetzes Public Health COVID-19): Gesundheitliche Risiken wie Armut, Arbeitslosigkeit, prekäre Arbeitsbedingungen, psychische Belastungen, eingeschränkte medizinische Versorgung und Bildung, soziale Ungleichheit und Umweltbelastungen können mittel- und langfristig zunehmen als Folge der veränderten sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen.

Begrüßung und Grußwort

Nach dem Startschuss und der Begrüßung aller Teilnehmer:innen und Referent:innen durch die Tagesmoderatorin Frau Helena Eisner wurde das Grußwort der Ministerin Heike Werner, welche gern persönlich anwesend gewesen wäre, eingespielt und damit die Veranstaltung und der angestrebte Dialog eröffnet.

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Grußwort der Ministerin Heike Werner

In Ihren einleitenden Worten ging die Ministerin nochmal deutlich auf den Zusammenhang der sozialen Unterschiede in Bezug auf die psychischen, aber auch physischen Auswirkungen der Pandemie, ihrer Folgen und der entstandenen Belastungssituationen aller Altersgruppen ein. Sie beschrieb ebenso, wie belastend getroffene Schutz- und Hygiene-Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie für Familien, Arbeitnehmer und -geber, Kinder und Jugendliche oder auch Personen im öffentlichen Gesundheitswesen waren. Daher unterstütze Sie den wichtigen Dialog über die Lebensphasen hinweg und wünschte sich sehr über die Ergebnisse und weitere Diskussion informiert und angeschlossen zu werden.

Lebensphase "Gesund leben und arbeiten"

Zum Hintergrund:

Zahlreiche Analysen haben Erkenntnisse zusammengetragen, was Menschen in der aktuellen Situation besonders stark im psychosozialen Bereich belastet. Besonders hervorzuheben sind hier die psychischen Arbeitsbelastungen von Beschäftigten (siehe auch Handreichung zum Management psychischer Arbeitsbelastungen während der COVID-19 Pandemie).

Impulsvorträge

In der Lebensphase „Gesund leben und arbeiten“ bildeten Frau Professorin Dr. Sabine Rehmer und Frau Almut Backhaus das erste Tandem aus Praxis und Wissenschaft. Frau Rehmer ist an der SRH Hochschule in Gera und Hamburg Professorin und Studiengangsleiterin der Arbeits- und Organisationspsychologie (M.Sc.) mit Schwerpunkt Sicherheit und Gesundheit in der Arbeitswelt. Zudem ist sie Geschäftsführerin des Institutes für Gesundheit in Organisationen (IGO).

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In ihrem Vortrag mit dem Titel „Vulnerabilität hat viele Facetten - psychische Gesundheit im Arbeitskontext während der Corona Pandemie“ standen psychosoziale Risiken der Arbeit während der Pandemie im Fokus. Mit den treffenden Worten „Zu viel, zu wenig, das Falsche…“ wurde deutlich, wie unterschiedlich die Menschen, durch Kurzarbeit und Arbeitsplatzunsicherheit versus Mehrarbeit und Arbeitsverdichtung, Konflikte mit Kund:innen und Patient:innen, Rollenkonflikte in der Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder der Angst vor einer Infektion diesen Risiken ausgesetzt waren und sie bewältigen mussten. Außergewöhnliche Umstände können verschiedene körperliche, kognitive, emotionale und verhaltensbezogene Reaktionsformen aufzeigen und zur Folge haben. Menschen fühlen sich niedergeschlagen und haben vermehrt Kopfschmerzen, können nicht vom Arbeitstag abschalten und schätzen ihr Leistungsvermögen als zu gering ein. Emotional fühlen sie sich gehetzt, unruhig, sind ungeduldig und reizbarer. Verhaltensbezogene Reaktionsformen können übermäßiger Drogenkonsum, das Weglassen von Erholungspausen oder verändertes Essverhalten sein. Diese Auswahl an Reaktionsformen kann auch langfristige Auswirkungen auf die Gesundheit der Beschäftigten haben. Nach der Pandemie kann es schwer fallen sich von der Krisensituation zu lösen. Gerade psychische Folgen von Krisensituationen und außergewöhnlichen Belastungen treten oft verzögert ein, wenn die Beschäftigten in der Situation noch „funktionierten“. Für Arbeitgebende bedeutet dies: sie sollten während und nach der Pandemie aufmerksam bleiben und sich einen Umgang überlegen, wie sie bei entsprechenden Anzeichen der Beeinträchtigung der psychischen Gesundheit mit Mitarbeitenden umgehen können.

Der Arbeits- und Gesundheitsschutz muss nun den Fokus auf psychische Belastungen und deren Auswirkungen auf die Arbeit in der Gefährdungsbeurteilung verstärken. So sollten beispielsweise Regelungen von Arbeitszeiten und der Erreichbarkeit im Homeoffice bzw. bei Telearbeit sowie der betrieblichen Kommunikation und des Informationsflusses in ebendiesen getroffen werden. Außerdem sollten die Erschwernisse der Arbeits- und Alltagsbewältigung durch Kinderbetreuung oder zu pflegende Angehörige, bei der Arbeitszeitgestaltung berücksichtigt werden. Beim Fokus auf betriebliche Gesundheit kann vor allem eine empathische Führung pandemiebedingten Zusatzbelastungen der Beschäftigten gerecht werden.  Zur aktuellen Krisenintervention sollte professionelle Hilfe herangezogen und Beschäftigten Angebote zur psychosozialen Unterstützung ermöglicht werden. Zur Stärkung der Resilienz ihrer Mitarbeitenden brauchen Betriebe auch nach der Pandemie etablierte Möglichkeiten zur vertraulichen Beratung, um Gefühle und Gedanken offen anzusprechen.

Die Präsentation von Frau Prof. Dr. Rehmer sowie ihre Literaturangaben finden Sie hier.

Frau Almut Backhaus ist Kontrollbeauftragte in der Abteilung Arbeitsschutz des Thüringer Landesamtes für Verbraucherschutz. Sie gab einen „Einblick in die Praxis von Arbeitsschutzkontrollen“ und ergänzte und untermauerte mit ihrem Praxisbericht den Fachimpuls von Frau Prof. Dr. Rehmer.

Anhang

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Almut Backhaus, Abteilung Arbeitsschutz, Thüringer Landesamt für Verbraucherschutz

Im Impulsvortrag von Frau Backhaus wurde auf Berufe und Branchen aufmerksam gemacht, die während der Pandemie keine Möglichkeit zur Nutzung des Homeoffice bzw. der Telearbeit hatten und somit per se einem höheren Ansteckungsrisiko ausgesetzt waren. So galt es die Herausforderung zu meistern zeitnah für alle Mitarbeitenden, z.B. auf laufenden Baustellen, die geltenden Arbeitsschutzmaßnahmen umzusetzen. Es mussten zusätzlich zum regulären Arbeitsgeschehen Hygienekonzepte erstellt, Masken, Tests, Desinfektion bereitgestellt und die Dokumentation der neuen Arbeitsabläufe und Veränderungen der Arbeitsorganisation geleistet werden.
Für Telearbeit mussten Mitarbeitende nicht nur technisch neu ausgestattet werden, sondern durch die entstandene Distanz veränderte sich auch die Kontrolle der Führung. So wurde auch hier nochmal die Schlüsselrolle der Führungskräfte in der Bewältigung der Pandemie einerseits zur Absicherung des Arbeitsschutzes andererseits für die psychische Gesundheit der Mitarbeiter:innen sichtbar. So sind zwar Möglichkeiten zur Berücksichtigung der psychischen Gesundheit seit 2013 im Arbeitsschutzgesetz durch die psychische Gefährdungsbeurteilung gesetzlich verankert. Der Abschlussbericht der Gemeinsamen deutschen Arbeitsschutzstrategie - Arbeitsprogramm Psyche - schätzt allerdings, dass nur ca. 40 % diese Gefährdungsbeurteilung vollständig bis weitgehend umsetzen. Daher brauche es nach der Einschätzung von Frau Backhaus wieder mehr Kontrolle, mehr Aufklärung und mehr Beratung dazu.

Die Präsentation von Frau Almut Backhaus sowie ihre Literaturangaben finden Sie hier.

Anhang

gesund_leben_und_arbeiten_Almut_Backhaus.pdf (0.5 MB)

Lebensphase "Gesund alt werden"

Zum Hintergrund:

Belegbare negative Folgen der Isolations- und Quarantänemaßnahmen im Zuge der Eindämmung der Pandemie und damit einhergehende Auswirkungen auf die psychosoziale Gesundheit sind z.B. erhöhte Depressivität, Ängstlichkeit, posttraumatische Belastung, Wut, Stresserleben, Einsamkeit und Stigmatisierungserfahrungen (siehe auch Policy Brief des Kompetenznetz Public Health Covid-19).

Impulsvorträge:

Das Referenten-Tandem zur Lebensphase „Gesund alt werden“ bildete ein Team mit viel Praxiserfahrung: Herr Synan Al-Hashimy, Chefarzt der Psychosomatik und Psychotherapie im Ökumenischen Hainich Klinikum in Mühlhausen und Herr Bernd Lindig vom Soziokulturellen Forum der Marie-Seebach-Stiftung Weimar. Beide Herren berichteten vom Alltag während der Corona-Pandemie aus den unterschiedlichen Perspektiven von Klinik und Pflegeeinrichtung. Herr Al-Hashimy fokussierte in seinem Vortrag unter dem Titel: "Möglichkeiten der Demenzprävention: Ein hilfreicher Umgang pflegender Angehöriger mit dementiell erkrankten Menschen sowie pandemiebedingte Schwierigkeiten" Demenzerkrankte und ihre Angehörigen.

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Synan Al-Hashimy, Ökumenisches Hainich Klinikum Mühlhausen

Zur Demenzprävention gibt es verschiedene Risikofaktoren, die vermieden werden sollten. Hierzu gehören ein niedriger Bildungsstatus, Fettleibigkeit, Diabetes, Bewegungsmangel, Rauchen und Bluthochdruck, aber auch beginnende oder manifeste Depression und eine Hörbehinderung können wichtige Warnhinweise sein. Eventuell kann dieser Liste in Zukunft noch Luftverschmutzung hinzugefügt werden, sofern weitere Studienergebnisse verfügbar sind.

Für demenzerkrankte Menschen und deren Pflegepersonen, unabhängig ob im klinischen oder häuslichen Umfeld, waren die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie eine starke Belastung. Die Abstraktheit des nicht sichtbaren Virus und der somit schwer zu erklärenden Gefahr einer Ansteckung machten es den Patienten schwer. Wichtige Alltagsroutinen wurden durch den erweiterten Hygieneschutz verändert. Strukturen, wie Tagespflege oder der Besuch von Angehörigen fielen teilweise und plötzlich weg und steigerten damit die Mehrbelastung der Pflegenden. Das dauerhafte Tragen medizinischer Masken erschwerte zudem den persönlichen Zugang und führte zu Verwirrung und Ängsten seitens der Patienten. Herr Al-Hashimy verdeutlichte eindringlich wie wichtig es für die eigene Psychohygiene von pflegenden Angehörigen dementiell erkrankter Personen ist, frühzeitig Aufgaben delegieren zu lernen und zu können, da sie sonst „zu lange und zu weit über ihre gesunden Grenzen hinweg gehen“ und sich selbst in eine Situation der Überforderung und psychischen Erkrankung hineinmanövrieren. Hierfür braucht es aufgrund des progredienten Verlaufs der Erkrankung ausreichende Unterstützung, welche Tagespflegeeinrichtungen und häusliche Pflegedienste in Zeiten der Pandemie durch Quarantäne und z.T. eigene Krankheitsausfälle nicht mehr abdecken konnten.


Herr Bernd Lindig knüpfte in seinem Vortrag "Beschützt und trotzdem übersehen? - Gedanken zur Lebenssituation von Pflegeheimbewohner:innen in Zeiten der Pandemie" an die Ausführungen von Herrn Al-Hashimy an und berichtete, untermalt mit bewegenden und starken Fotos, von seinen Pandemieerfahrungen in Einrichtungen der Pflege.

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Bernd Lindig, Soziokulturelles Forum Marie-Seebach Stiftung Weimar

Die Fotos zu seinem Kurzinput verdeutlichten seine These, dass Corona wie ein Brennglas auf schon bestehende Missstände wirkte. So wünschen sich die Bewohner:innen in Pflegeheimen, Menschen mit langer Geschichte und Krisenerfahrung, vor allem Akzeptanz und Entscheidungs- und Gestaltungsräume in diesem letzten Lebensabschnitt. Leider liegt in Pflegeheimen sehr häufig, nach Herrn Lindig, die Betonung auf „Pflege und Versorgung“ und weniger auf Teilhabe. Dabei können Kultur, Kunst und zugewandte Kommunikation Resilienz stärkende und zugleich Lebensqualität verbessernde Faktoren in der Pflege sein. Allerdings wurden in der Pandemie durch die staatlich angeordneten Schließungen der Einrichtungen und starke Reglementierung der Zugänge für außenstehende Personen die Handlungsspielräume entzogen. Die Bewohner:innen wurden zu besonders Gefährdeten und verschwanden hinter ihrer Schutzbedürftigkeit und wurden gar nicht gehört. Diese „Fremdbestimmung“, welche anfänglich auch die Seniorenvertretungen nicht in die Planung von Maßnahmen miteinbezogen hatte, erlebten viele der älteren Menschen verbunden mit persönlichen Ängsten um Angehörige als starke psychische Belastung und ggf. letzten Eindruck vor ihrem Ableben.
Aber auch mit Blick auf das Pflegepersonal, welches sich z.T. in doppelten Nachtschichten unter voller Schutzbekleidung um die Bewohner:innen kümmerte und ebenfalls unter starkem psychischem Druck stand alle Hygienemaßnahmen einzuhalten und niemanden zu gefährden, verschärfte das „Pandemie-Brennglas“ die auch vorher schon bestehenden Missverhältnisse. So sprach Herr Lindig von einer „Berufsflucht“ in der Pflege, da die institutionelle Aufmachung vieler Heime nicht den eigentlichen Bedürfnissen an Berufsstand und Bewohner:innen entspricht. Pflegeeinrichtungen sollten daher zukünftig viel mehr Wert auf Teilhabe und Lebensqualität aller Beteiligten legen und brauchen neue Maßstäbe auch für individuelle Gestaltung. Herrn Lindigs Wunsch für zukünftige Prozesse ist anders zu kommunizieren: Partizipation sowie gesehen und gehört werden.

Lebensphase "Gesund aufwachsen"

Zum Hintergrund:

Die Schul- und Kitaschließungen im Frühjahr 2020 bedeuteten einen massiven Eingriff in die Alltagsgestaltung von Familien, die Arbeitsorganisation von Eltern sowie die Bildungs- und Sozialisationsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen. Die ohnehin große familienpolitische Herausforderung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf spitzte sich während der Pandemie zu und wurde zunächst vor allem zu einem privaten Problem der Familien. Im Fortlauf der Pandemie wurde die Unsicherheit über sich ständig wechselnde Öffnungs- und Schließmodelle der Einrichtungen kontinuierliche Begleiterin der Familien und beeinträchtigte das Wohlbefinden von Kindern, Jugendlichen und Eltern sowie die Qualität der Bildungsbegleitung in Schulen und Kindertageseinrichtungen. [1]

Des Weiteren zeigt die COPSY-Studie [2] auf, dass die mit der Covid-19 Pandemie einhergegangenen Veränderungen und Kontaktbeschränkungen das psychische Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen beeinflussten. Im Vergleich zu der Zeit vor der Pandemie gaben die Kinder und Jugendlichen eine geminderte Lebensqualität an, der Anteil von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Auffälligkeiten hat sich in etwa verdoppelt und ihr Gesundheitsverhalten hat sich verschlechtert. Sozial benachteiligte Kinder erlebten die Belastungen durch die Pandemie besonders stark.

[1] FH Erfurt, Lochner, T. (2021): Thüringer Familien in Zeiten von Corona. Abschlussbericht zum Forschungsprojekt. Verfügbar unter: https://www.fh-erfurt.de/soz/fileadmin/SO/Dokumente/Lehrende/Lochner_Barbara_Dr/Broschuere-Thuer-Familien-Corona_web_2.pdf

[2] Ravens-Sieberer, U., Kaman, A., Otto, C. et al. Seelische Gesundheit und psychische Belastungen von Kindern und Jugendlichen in der ersten Welle der COVID-19-Pandemie – Ergebnisse der COPSY-Studie. Bundesgesundheitsbl (2021). doi.org/10.1007/s00103-021-03291-3

Impulsvorträge:

Das Tandem im dritten Abschnitt des Vormittages beleuchtete Perspektiven für Kinder und Jugendliche beim Aufwachsen während und nach der Pandemie. Frau Professorin Dr. Anna Lena Rademaker aus dem Fachbereich Sozialwesen von der Fachhochschule Bielefeld referierte unter dem Titel „Gesund aufwachsen in und nach der Pandemie: Perspektiven Sozialer Arbeit zur Förderung von Gesundheit und Resilienz junger Menschen post Covid-19“ und Herr Alexander Vogt, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut aus Erfurt berichtete über seine therapeutischen Praxiserfahrungen während Corona mit Perspektive auf die kommenden Monate.
Frau Rademaker zeigte auf, was es für Kinder und Jugendliche bedeutete nur auf die Rolle als Schüler:innen reduziert zu werden, während ein Ausgleich über Freizeitaktivitäten kaum noch möglich war. Auch sie sieht eine Verschärfung der gesundheitlichen Ungleichheit durch die Pandemie bei noch ungewissen langfristigen Folgen. Ein Ansatz der zukünftig fokussiert werden sollte, ist die Lebensweltorientierte Gesundheitsförderung. Sie sieht Gesundheit als konstitutiven Bestandteil des Alltags junger Menschen und kombiniert eine Orientierung an der Lebenswelt mit einer Orientierung am Subjekt und der Individualität junger Menschen. Zudem sollte über den Health in all Policies-Ansatz die kommunale Resilienz gestärkt sowie über Partizipationsmaßnahmen mehr Teilhabe ermöglicht werden. Frau Rademaker sieht die Sozialraumorientierung als Schlüssel der Begegnung zukünftiger Herausforderungen. Dahingehend soll auch Gesundheitsförderung lebensweltübergreifend und kommunal fest verankert sein. Dies schafft Nachhaltigkeit und ist ein Schritt auf dem Weg zu gesundheitlicher Chancengleichheit.

Die Präsentation sowie Literaturangaben finden Sie hier.

Anhang

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Prof. Dr. Anna Lena Rademaker, FH Bielefeld

„Einblicke in die Kinder- und Jugendpsychotherapie während der Pandemie“ ermöglichte Herr Alexander Vogt in seinem Impulsvortrag. Er schilderte eine verzögerte Zunahme an psychischen Erkrankungen in diesem Altersabschnitt, die über die Dauer der Pandemie dazu führte, dass Therapeut:innen ihre Wartelisten schließen zu mussten. Wurde in der ersten Welle der Pandemie die Schließung von Einrichtungen der Bildung und Betreuung noch als entschleunigend wahrgenommen und Kinder und Jugendliche erfreuten sich vermeintlich verlängerter Ferien, so stieg bereits ab Herbst 2020 kontinuierlich die Anzahl Hilfesuchender. Die mittlerweile nicht mehr zu deckende Nachfrage an psychotherapeutischer Unterstützung, stellt auch eine Belastung für die Therapeut:innen dar, wenn sie den Hilfesuchenden und ihren Familien absagen müssen, weil keine Kapazitäten vorhanden sind.

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Alexander Vogt, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut in Erfurt

So beschrieb Herr Vogt die Pandemie und ihre Auswirkungen bei seinen jungen Patient:innen als „traumatische Zange“ zwischen Ohnmacht und Hilflosigkeit, die entweder psychopathologische Erscheinungen verstärken, auslösen oder auch nach bereits erfolgreicher Therapie reaktivieren kann. Er berichtete hierzu sehr anschaulich von zwei Fallbeispielen: Bei einer Patientin, die austherapiert war und durch Corona soziale Isolation erlebte, kamen alte negative Verhaltensmuster zurück und ein weiterer Patient hatte, durch die gesteigerte Hygiene aufgrund der Pandemie und die Angst vor einer Ansteckung, Zwänge entwickelt und plötzlich Angst beim Kontakt mit Menschen empfunden.

Zu den mangelnden Versorgungsstrukturen sprach sich Herr Vogt eindringlich dafür aus, dass man zukünftig in den psychotherapeutischen Praxen dringend Kapazitäten frei halten muss für Krisensituationen, und dass in Kommunen kooperative Vernetzungsstrukturen aufgebaut werden sollten damit diese als „aktive Servicepartner“ fungieren können und Eltern betroffener Kinder frühzeitig Hilfe suchen und finden können. Auch ging er darauf ein, wie wichtig präventive Kinder- und Jugendlichen Psychotherapie sein kann und pädagogische Angebote und Selbsthilfe miteinander Hand in Hand gehen sollten. Eine Chance auf kreative und kommunikative Lösungen könnte hierbei in seinen Augen die Digitalisierung bieten, denn wenn die Kinder und Jugendlichen nicht raus können, brauchen sie Strategien, um der sozialen Isolierung zu entkommen.

Zum Nachmittag:

Einführung Workshops (WS)

  • WS „Gesund aufwachsen“ – Moderation Frau Gudrun Schaarschmidt

  • WS „Gesund leben und arbeiten“ – Moderation Frau Silke Nöller

  • WS „Gesund alt werden“ – Moderation Frau Uta Maercker

Diese Flusslandschaft bildete die Diskussionsanregung zur pandemischen Reise in den Workshops (Illustration Carolin Voigt, AGETHUR):

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Vorrangige Anliegen waren:

  • in Bezugnahme auf das Thema „Psychische Gesundheit und Resilienz“ vulnerable Zielgruppen und deren besondere Belastungssituationen mit Blick auf die Auswirkungen der Coronapandemie herauszuarbeiten

  • in einem gemeinsamen Prozess mit den Mitgliedern Lösungsansätze zur Förderung der psychischen Gesundheit und Resilienz zusammenzutragen und zu diskutieren

  • eine gemeinsame Stellungnahme zu entwickeln (aus der LGK heraus) mit Vorschlägen für konkrete Lösungsansätze (Empfehlungen für Politik und Akteure)

Hier finden Sie eine Zusammenfassung der Workshops

Anhang

LGK_Dialogformat_Ergebnisse_Workshops.pdf (0.4 MB)

Zur Podiumsdiskussion geladen waren:

  • Herr Carsten Nöthling (Geschäftsführer DKSB Thüringen)

  • Herr Aaron Richardt (Vorstandsvorsitzender des AKF Thüringen)

  • Sandro Witt (Landesvertreter DGB Thüringen)

  • Christopher Gille (IKK & BGF-Steuerkreis)

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(links: Helena Eisner; rechts v.o.: Aaron Richardt, Sandro Witt, Christopher Gille, Carsten Nöthling)

Die Gäste stellten sich den Fragen unserer Moderatorin, welche den Grundgedanken: „Wie kommen wir nun vom Konjunktiv zum Indikativ, von der Wunschvorstellung zur Realität?“ nachging.

Diskussionsstränge und Argumentationslinien

In Familien zeigte sich ein Spagat zwischen Arbeit und Kinderbetreuung. Diesen täglichen Leistungen gilt es Anerkennung und Wertschätzung zu zollen. Familien dürfen nicht abgehängt werden, doch woher kann die helfende Hand für Familien kommen? Es ist wichtig auch während eines Lockdowns die Erreichbarkeit von Beratungsstellen für Kinder und Familien zu sichern. Familien sind eine tragende Säule der Gesellschaft. Geht es ihnen gut, so geht es der Gesellschaft gut.

Bestimmte Gruppen haben ihre Lobby eingesetzt, um Wirtschaftsinteressen durchzusetzen. Dies zeigte sich auch bei der Impfpriorisierung. So wird sich eine Umverteilung gewünscht und es sollen Gelder für Familien und Bildung, statt für Wirtschaft bereitgestellt werden.

Die Gruppe der Studierenden ist mit ihren großen Probleme wenig im Blick der Pandemiediskussionen. Sie erlebten oft enorme finanzielle Belastung, wenn sie beispielsweise ihren Minijob verloren haben. Zudem müssen auch Sie einen Spagat zwischen Studium und Kinderbetreuung leisten.

Es wurde viel über berufliche Systemrelevanz gesprochen. Doch was macht es mit einem Menschen zu wissen, dass er in einem nicht systemrelevanten Beruf arbeitet?

Die betriebliche Gesundheitsförderung (BGF) wurde während der Pandemie zurückgefahren oder ist gänzlich weggefallen. Nun ist es wichtig wieder Zugänge zu Betrieben zu schaffen und Kooperationen zu bilden, damit BGF nicht nur ein Feuerlöscher, sondern nachhaltige BGF und Prävention sein kann. Was sich bisher schon herauskristallisiert hat ist, die Steigerung der Arbeitsunfähigkeitszahlen aufgrund von psychischen Erkrankungen. Diese Entwicklung gilt es nun besonders in den Blick zu nehmen.

Die Moderatorin fragte die Podiumsgäste nach positiven (+) und negativen (-) Folgen der Pandemie für ihre Zielgruppen:

Sandro Witt: (+/-) Betriebsräte dürfen & müssen per Videoschalte abstimmen

Christopher Gille: (+) BGF Kür und Pflicht (-) BGF wird weniger in Anspruch genommen

Carsten Nöthling: Forderung nach mehr Mitbestimmung für Kinder, (-) Pädagogik schließt ein und ist eng

Aaron Richardt: (-) wenn katastrophaler Zustand anhalten würde. (+) wenn Kita, Schule etc. als Familien gedacht werden und sich auf Familien und nicht auf Individuen konzentrieren

Stimmungsbild des Tages

Die Ergebnisse der abschließenden Mentimeter-Befragung und der Evaluation des Tages finden Sie im jeweiligen Schlagwort verlinkt.

Danksagung

Wir danken allen Beteiligten der Veranstaltung: den Referent:innen, den Podiumsgästen, unserer Tagesmoderatorin, der technischen Unterstützung durch den Landesfilmdienst Thüringen, den Kolleg:innen der AGETHUR und natürlich allen Teilnehmer:innen für diesen gelungenen Austausch. Wir freuen uns jetzt schon darauf, den begonnenen Dialog mit Ihnen an anderer Stelle weiter fortzusetzen.

Anhänge

Mentimeter_Ergebnisse.pdf (0.3 MB)
LGK-Dialogformat_Evaluationsergebnisse.pdf (0.1 MB)